Aktuelles

Dr. Beatrix Nobis,
Kunstwissenschaftlerin


Die Rolle, die die Kirche als Auftraggeber, Kunstförderer und Kunstmäzen heute spielt, ist, den historischen Entwicklungen gemäß, eher untergeordnet. Wem nun die „Schuld" zu geben ist, dass die an den sakralen Raum gebundene Kunst seit zweihundert Jahren meist als Kunstgewerbe, oft auch als marginale Schwundstufe zeitgenössischer stilistischer Strömungen auftritt, ist weniger als moralische, sondern als gesellschaftliche, vielleicht auch als kunstphilosophische Fragestellung von Bedeutung. Hat die "Entgöttlichung" der Welt dazu geführt, dass kaum noch ein Künstler von Rang bereit oder in der Lage ist, sich mit theologischen Problemen oder auch nur der angemessenen Verbildlichung der biblischen Geschichte auseinander zu setzen?

Oder sind es die Kirchen beider großen christlichen Konfessionen, die sich nach der Säkularisierung mehr und mehr aus der Verantwortung, in ihren Kunstwerken nicht nur diesseitige Kostbarkeit, sondern auch eine metaphysische Kraft zu spiegeln, zurückgezogen haben, oder, noch gravierender, womöglich einen ästhetischen Populismus fördern, der ihnen den Zuspruch breiter Schichten von Kirchgängern sichert?
In Anbetracht der Tatsache, dass die großen Traditionen der sakralen Kunst längst abgebrochen sind, scheint es gar nicht so verwunderlich, dass die Bevölkerung von Luttrum sich erbost und mit heftigem Widerstand gegen Georg Baselitz' "Tanz ums Kreuz" aufgelehnt hat. Denn Baselitz bietet nicht  etwa ausschließlich einen gleichnishaften Kommentar zu den Problemen der Selbsterkundung und Selbstfindung des modern "zerrissenen" Menschen, (der möglicherweise noch akzeptiert worden wäre), sondern er bezieht sich dezidiert auf einen zentralen Bereich der Heilsgeschichte, der allen Christen in ihrem Glauben der heiligste und unantastbarste ist. Kreuzigung und Erlösung Christi haben in vergangenen Jahrhunderten Künstler zu den tiefsten und ausgereiftesten Zeugnissen ihrer Ausdruckskraft inspiriert; nun, um im Sinne der widerspenstigsten Gläubigen von Luttrum zu sprechen, maßt sich einer an, "ihren Christus als grobschlächtigen, kopfüber aufgehängten, buntstiftfarbenen Tölpel darzubieten, der sich schwerfällig in die Erde zubohren scheint, ohne dass es nur einen einzigen Hinweis darauf gäbe, dass sich dieser Körper auf die Transfiguration in eine göttliche Existenz vorbereitet.“

Doch Baselitz‘ leidender, im Diesseits verhafteter Christus steht in einer langen Tradition. Man denke nur an den ausgestreckten, verwesenden Leichnam der Baseler Predella den Hans Holbein d. J. malte, oder an Rembrandts "Kreuzabnahme". Es gibt jedoch keine Zeugnisse dafür, dass Bilder dieser Art zu ihrer Zeit als blasphemisch gebrandmarkt oder den Augen der Öffentlichkeit entzogen worden wären. Allein die Tatsache, dass Kunstwerke unter dem Schutz mächtiger Auftraggeber standen, verhinderte jede breite Diskussion. Das in der Regel gebildete und theologisch geschulte Publikum, das in der Lage gewesen wäre, Ablehnung zu formulieren, spürte und sah dagegen offenbar den tiefen Ernst, mit dem der irdische, verfallende Leib des Toten zum bewegenden Symbol des christlichen Erlösungsgedankens erhoben wurde, und dies spürt und sieht es auch heute noch.

Die Luttrumer Gemeindemitglieder beharren zu Recht auf demokratischer Mitbestimmung an der Ausstattung ihrer Kirche und artikulieren entsprechend ihren Widerspruch.

Es ist sicher bewundernswert, mit welchem Stoizismus nun versucht wird, ihnen Baselitz' Geschenk schmackhaft und auch auf lange Sicht akzeptabel zu machen. Nur wird dabei vielleicht  übersehen,  dass  die  allmähliche „Gewöhnung“ an das Unbekannte nur in seltenen Fällen wirkliche Zuneigung oder sogar Liebe erzeugt. Meist geht der öffentliche Protest in achselzuckende Verachtung über; die „voxpopuli“ hat durchaus differenzierte Möglichkeiten, sich in unterschiedlichen Abstufungen des Missfallens zu äußern.

In Anbetracht der eskalierten Situation wäre es meiner Ansicht nach sinnvoll, auf eine weitere Präsentation des Baselitzbildes in der Luttrumer Kirche zu verzichten. Kunst von großer Qualität und vielschichtigem Bedeutungsgehalt sollte nicht zum Zankapfel werden und sich schon gar nicht, begleitet von gutgemeinter, doch letztlich unergiebiger Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit, gegenüber dem allgemeinen trivialen Geschmack und dem Bedürfnis der Menschen, in ihrer Kirche vor allein schlichte Nahrung für Seele und Gemüt vorzufinden, zu legitimieren versuchen. Kunst zu betrachten und zu verstehen ist eine mühselige und fordernde Aufgabe; als schöpferische, individuelle Äußerung des Menschen bedarf sie der Schutzzonen und einer besonderen Pflege. Man sollte sie deshalb nicht allzu lange und grundlos der Borniertheit eines beharrlich uneinsichtigen Publikums aussetzen.