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Hans Joachim Dose
Pastor in der St. Annen Kirche, Luttrum, bis 2000


Tanz ums Kreuz
Gedanken zum Bild von Georg Baselitz

Meine Damen, meine Herren!
Ich freue mich, dass Sie mir für einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit schenken wollen. In Dänemark, sagt man, dauert der Augenblick eine halbe Stunde. In dieser halben Stunde will ich Ihnen etwas davon erzählen, was ich an diesem Bild beobachtet habe. Vielleicht·hilft es Ihnen, dass Sie mehr mit dem Bild anfangen können.

Ich habe die Menschen beobachtet, wie sie vor dem Bild gestanden oder gesessen haben, vielleicht waren es 5.000 oder 6.000, die in den 41 Monaten nach Luttrum gekommen sind. Wir haben über 100 Gottesdienste gefeiert, darunter Taufen, Hochzeiten und Abendmahlfeiern. Wir hatten auch besondere Musikveranstaltungen.

Die Leute waren weniger distanziert, als ich es hier in Hannover beobachtet habe.Sie waren auch näher am Bild. Die Kirche in Luttrum hat wenig mehr als 90 Quadratmeter Grundfläche. "Was ist das denn?" entfuhr es vielen unwillkürlich. Die meisten brauchten eine halbe Stunde, bis sie eine positive Beobachtung mitteilten. Bis dahin zählten sie nur solche Wahrnehmungen auf, die ihnen nicht gefielen.
Ich habe die Betrachter stets dazu ermuntert, ihre Empfindungen nicht zurückzuhalten, sondern anzusprechen, was sie wahrgenommen haben.

Viele Menschen haben offenbar eine ziemlich eingeschränkte Wahrnehmung. Sie halten sich fest an einer oder an wenigen Beobachtungen. Und die beschäftigen sie so sehr, dass sie weiter nichts mehr sehen können. Zum Beispiel: die Figur mit dem Kopf nach unten und den Füßen nach oben. Manche Betrachter kommen kaum darüber hinweg. Den regelmäßigen Betrachtern des Bildes dagegen wie den Gottesdienstbesuchern ist dies bald kein Anstoß mehr gewesen.

Das umgedrehte Bild ist ja verkehrt herum. Das macht bestürzt. In der Kirche darf nichts verkehrt sein, muß alles richtig sein. Verkehrtherum ist pervers. "Perverse Schande", hat mir einer geschrieben. Das wird auch sexuell verstanden. Verkehrt herum nannte man in meiner Jugendzeit die Homosexuellen. Für viele war der kirchliche Sündenbegriff auf sexuelles Fehlverhalten reduziert.

Für zwei lutherische Pastoren aus Südindien sah die Figur völlig anders aus. Sie erkannten darin den großen Guru, der in dieser Haltung drei Tage lang verharren kann und so den Segen erfleht für die ganze Welt. Gefragt, ob sie sich dieses Bild auch in ihrer Kirche vorstellen könnten, sagten sie: Nein, die Gemeinde würde das nicht dulden. Das Bild sei zu religiös.

Einmal hatten wir eine richtige Demonstration in Luttrum. Da waren Leute aus Celle angereist mit Plakaten,auf denen stand: Jesus steht nicht kopf, er herrscht. Und sie verteilten Handzettel, die warnten vor der Verhöhnung Jesu. Der Vorwurf, das Bild verhöhne Jesus, ist auch hier in dem Besucherbuch eingetragen. In München habe ich ihn gelesen: Baselitz macht sich lustig über Jesus und die Kirche. In Luttrum sagte eine alte Frau: Nicht genug,dass sie den Heiland gekreuzigt haben, jetzt stellen sie ihn noch auf den Kopf.

Wo mir gegenüber diese Befürchtung geäußert wurde, habe ich ruhig geantwortet: Nein, der Künstler macht sich nicht lustig. Er verhöhnt Christus nicht. Bei den Demonstranten aus Celle habe ich Eindruck gemacht mit der legenda aurea und der Erzählung, wie Petrus gekreuzigt werden sollte,da bat er, Petrus, die Henker darum, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt zu werden, zur Ehre seines Herrn. Da geschah es Gott zu Ehre, warum nicht auch hier?

Übrigens,wenn ich das hier einschieben darf:Im Kölner Museum Ludwig für Moderne Kunst war es mir zuerst aufgefallen, dass die Führer dort mit den Besuchern gut umgehen konnten. Jede Frage wurde ernst genommen. Nie wurde jemand auch nur durch Verziehen des Gesichts getadelt. Jeder konnte merken,dass er oder sie ernst genommen wurde. Ich habe mir dann bei den Museumspädagogen dort ein eigenes Praktikum eingerichtet mehrere Wochen, habe Besuchergruppen und auch Schulklassen mitbegleitet und beobachtet und gestaunt, was z.B. sieben- bis achtjährige Kinder an Bildern, nicht nur aus dem Mittelalter, sondern auch an modernen Bildern wahrnehmen. Ich will sagen: Ein Bildzubetrachten kann man lernen und üben. Ich bin sicher: Man muss es üben und lernen.

Lesen und Schreiben lernt sich auch nicht im Handumdrehen. Ein Kind wurde nach dem ersten Schultag gefragt: Na? Wie war's? Und sagte: Ganz gut. Nur, muss ich morgen wieder hin, weil wir heute noch nicht alles lernen konnten.

Kinder haben mit diesem Bild kaum Probleme. Ein Sechsjähriger auf die Frage: Was siehst du da? "Ein Kind, das liegt im Gras". Ein viertes Schuljahr war in Luttrum, einige Mütter waren mitgekommen. Eine Mutter fragte: Malt der Maler die Bilder so oder malt er sie erst richtig und dreht sie dann um? Ein Zehnjähriger in der ersten Reihe sagte: Die Farbe da unten am Rand ist ganz unten getrocknet. Der hat das so gemalt, wie es da hängt.

Der Rand gibt einen wichtigen Hinweis: So wie der Rand offen ist, ist das ganze Bild offen; unfertig und offen.
Wie wir die Karten drucken lassen haben, gab Baselitz den Auftrag, aufzupassen, dass der Drucker ja nicht wieder den Rand abschneidet wie bei einem anderen Bild, damit es "sauber" aussieht.

Der offene Rand ist wichtig. Es ist wie eine Warnung, zu früh mit einer Deutung des Bildes zu kommen. Wichtig ist die eigene Wahrnehmung, die Wahrnehmung etwa, dass alles im Bild gegen die Symmetrie gearbeitet ist. Eine menschliche Figur verleitet gerade zur symmetrischen Darstellung der Arme und Beine, der Augen und Ohren, der Körperumrisse, keine Symmetrie, kein goldener Schnitt,keine Ausgewogenheit.

Darum muss und kann auch die Deutung offen bleiben. Das ist nicht so leicht,die Deutung offen zu lassen. Wir sind es nun einmal gewöhnt, wissen zu wollen, was das da bedeuten soll.

Wenn Aggression aufkommt gegenüber diesem Bild, dann auch deshalb, weil dieses Bild sich der üblichen und prompten Deutung entzieht, vielleicht auch der Eindruck, einem Possenspiel ausgesetzt zu sein.Mir wurde erzählt, dass Max und Moritz nach Luttrum gefahren seien, um die Kirche und das Bild zu besehen. Und der eine habe zum andern gesagt: Schnell weg hier, sonst sagen die Leute noch, wir hätten das gemacht. Manche in Luttrum nennen die Figur den Clown, was sie dann Klohn aussprechen. Eine alte Frau sagte mir: Wenn der Klohn nur nicht so groß wäre,wäre sie ja mit ihm einverstanden. Ein anderer sagte zur Küsterin: „allevierzehnTage muß ich mir den Klohn angucken, damit ich mich wieder richtig aufregen kann.“ DerWiderspruch ist für mich auch eine Art der aneignenden Auseinandersetzung. Jeder Versuch einer Erklärung des Bildes bleibt vorläufig.

Ich will einmal woanders ansetzen, nämlich bei dem Hinweis von Wieland Schmied, dass Baselitz mit seiner Malerei eine „Spiritualisierung der Fläche“ erreiche. Das Bild erzählt nichts, erzählt keine Geschichte. Aber das Bild macht, dass erzählt wird. Die Betrachter fangen vor dem Bild an, zuerzählen.
Das Bild hat in Luttrum schon und von Luttrum aus Geschichten inspiriert. Das hört nicht auf.

Der Spiritualisierung der Fläche entspricht eine Desillusionierung beim Betrachter. Der Betrachter hat Erwartungen an das Bild. Er möchte eine Illusion haben. Das kennt er sonst von Bildern, im Fernsehen und wo auch immer, dass jedes Bild etwas vorspiegelt, ein Ereignis, ein Geschehen, etwas,wo er mitgehen kann. Dieses Bild ist anders. Darum hat der Mann richtig geurteilt in Luttrum, der gesagt hat: „Das ist gar kein Bild.“ Es ist kein Bild, wie er Bilder sonst kennt.

Das mit der entarteten Kunst ist leider auf den Vorgang in der Hitlerzeit fixiert, wo die Verfolgung der neuen Kunst zur Sache des Staates geworden war. Davon abgesehen stieß neue Kunst fast immer auf Ablehnung. Diese Reaktion können wir wohl kaum aussparen. Aber wir können sie begleiten.

Ein Kollege von mir sagte: Erstaunlich, welche Energien das Bild freigesetzt hat bei den Leuten! Wenn es doch nur gelänge,diese Energien irgendwie geordnet nutzbar zu machen. Die Spiritualisierung der Fläche führt beim Betrachter zu einer Desillusionierung seiner Erwartungen, seine Illusionen schwinden. Aber weil der Mensch in der Regel seine Illusionen gern hat, schmerzt ihn der Verlust. In Wirklichkeit bedeutet Desillusionierung aber Befreiung zur Wirklichkeit,die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.
So selbstverständlich ist das ja gar nicht, dass wir die Dinge so sehen können, wie sie in Wirklichkeit sind. Öfter ist es doch so, dass wir die Dinge so zu sehen versuchen, wie wir sie gern haben möchten.

Ein Brett vor dem Kopf ist der Ausdruck daür, dass einer nicht sieht, was doch eigentlich zu sehen ist. Jesus sagt in der Bergpredigt: "Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und siehst nicht den Balken im eigenen Auge?".
Das wollen sie ja eigentlich auch, nur sind sie es in der Kirche nicht gewöhnt. Mir ist das mal so rausgerutscht bei einer Taufansprache. Ich war sehr gestresst und etwas außer Kontrolle. Da habe ich gesagt zu der Taufgesellschaft: Ich kann hier predigen, was ich will, Sie glauben ja doch, was Sie wollen.

Ich war erst selbst erschrocken darüber, was ich gesagt hatte. Aber hinterher kam ein Pate extra zu mir und sagte: Also das haben Sie gut gesagt. Genau so ist es.

Das ist die Störung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bei allen vier Evangelisten ist eine Stelle aus dem Jesajabuch zitiert von der Verstockung, der Blockade der Wahrnehmung: Sie haben Augen und sehen nichts und haben Ohren und hören nichts.

Das richtige Sehen führt zur Einsicht, das richtige Hören führt zum Gehorsam, doch Vorsicht! Wir haben in unserer kirchlichen Tradition eine Hochschätzung des Gehorsams, die eine Geringschätzung der eigenen Wahrnehmung zur Folge hatte, ja, die oft genug die eigene Wahrnehmung schwer verdächtigt hat.

Das Bild von Georg Baselitz ist da traditionskritisch. Manche Betrachter erwarten denn auch, von diesem Bild in derselben Weise Belehrung und Weisung zu erhalten, wie sie sonst in der Kirche Belehrung und Weisung erhalten haben. Nun sind sie aber auf sich selbst zurückverwiesen. Sie müssen selber sehen und selber urteilen.