Publikationen

Erschienen in Zeitschrift für Theaterpädagogik Nr 65

Seit 5 Jahren praktiziert  der Arbeitskreis Kirche und Theater in der Evangelischen Kirche in Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Theaterpädagogischen Institut, Lingen ein Kooperations- und Austauschprogramm „Palästinensischer Deutscher Dialog über Theater und Theaterpädagogik“ mit palästinensischen und deutschen Theatern, Schultheatern und Amateurtheatern und Hochschulen.

Ein Netzwerk zwischen palästinensischen und deutschen Theatern, Ausbildungsstätten, Verbänden, Theaterpädagog*innen, Theatermacher*innen und Theaterwissenschaftler*innen ist aufgebaut worden und dazu ein Internet Portal zum Informationsaustausch. Diese Website ist seit 2013 in Betrieb und wird stark genutzt www.masrah-theater.net. An dem Netzwerk beteiligen sich heute alle wichtigen Theater in Palästina, wie das Ashtar Theatre, Ramallah, das Nationaltheater Hakawati, Jerusalem, das Freedom Theatre, Jenin, das Diyar Dance Theatre, Bethlehem, das Yes Theatre, Hebron, das Al Harah Theatre, Beit Jala, das Inad Theatre, Beit Jala, das Al Qasabeth Theatre, Ramallah, sowie das Dar Al Kalima College und die Universität Bethlehem und das GoetheInstitut Ramallah. Von deutscher Seite beteiligen sich neben dem Arbeitskreis Kirche und Theater und dem Institut für Theaterpädagogik, Osnabrück-Lingen, die Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater und Vertreter von Hochschulen in Berlin, Dortmund, Hannover, Greifswald, Hildesheim und Braunschweig, Verbände wie der Bundesverband der Theaterpädagogen, der Bundesverband Schultheater, das Theaterpädagogische Zentrum Lingen und die Kinderkulturkarawane, sowie Theater wie das Junge Schauspiel und die Theaterpädagogik des Staatstheaters Hannover, der Jugendclub der Schaubühne Berlin, das Theater Essen, das Cactus Theater Münster.

Theater aus Palästina

Im Rahmen unseres „Palästinensischen Deutschen Dialogs über Theater und Theaterpädagogik“ hatten wir das Ashtar Theatre aus Ramallah vom 10. bis 17. April 2016 nach Hannover eingeladen zu Aufführungen, Diskussionen und Workshops.

Das Ashtar Theatre wurde 1991 in Jerusalem gegründet und spielt seit1995 in Ramallah experimentelles Theater und führt theaterpädagogische Fortbildungen durch. Es ist im Nahen Osten das führende Theater, das Augusto Boals Buch über Theater der Unterdrückten ins Arabische übersetzt hat und die Methode praktiziert. Inzwischen führt das Ashtar Theatre auch in Jordanien theaterpädagogische Fortbildungen insbesondere in Flüchtlingslagern mit Syrern durch.

(Der Gott Ashtar stand in babylonischer Zeit für Liebe, Schönheit, Fruchtbarkeit und Opferbereitschaft. Das Haupttor  der Stadt Baylon trug auch seinen Namen. Eine Imitation ist im Pergamon-Museum in Berlin zu sehen.)

In diesem Theater geht es nicht nur um Informationen über die konkrete gesellschaftliche Situation, sondern es wird zugleich „eingreifendes Handeln“ der Zuschauer*innen ermöglicht. Sie werden zu „Co-Actors“. Häufig  fordern „Joker“ auf, Stellung zu beziehen, nach Problemlösungen zu suchen, nicht nur verbal mit Argumenten, sondern auch mit alternativen Szenen, die die Zuschauer*innen dann mit den Spieler*innen auf der Bühne zeigen. Theatrale Veranschaulichungen von Konflikten und die Erprobung von Lösungsansätzen im szenischen Handeln und Sprechen machen dieses Forumtheater zu einer geeigneten Theaterform für politisch-pädagogische Lernprozesse.

Das Ashtar Theatre stellte in Hannover vor, wie es arbeitet, wie es sich engagiert und für einen gesellschaftlichen Wandel eintritt. Wir fragten danach, welche Themen es für die Bühne wählt und auch weltweit diskutiert, welche Rolle, welche Funktion  palästinensisches Theater in Palästina hat. Wir wollten beobachten, welche Formen von zeitgenössischem Theater praktiziert  und welche Wirkungen das  Theater im Kontext mit  den politischen Konflikten in Palästina und weltweit hat. In diesem palästinensisch-deutschen Dialog über Theater und Theaterpädagogik waren Theorie und Praxis eng miteinander verbunden.

Am gesamten Fachprogramm vom 10. bis 17. April in Hannover  nahmen das  Team des Ashtar Theatre teil:  der Direktor, Edward Muallem, und die künstlerische Leiterin, Iman Aoun, und der Regisseur, Mohammad Eid, sowie  ein Techniker und fünf junge SchauspielerInnen . Also 9 palästinensische Theatermacher nahmen aktiv teil. Von deutscher Seite nahmen  TheaterpädagogInnen aus Hildesheim, Bielefeld, Lingen, Hannover, Schultheater-VertreterInnen, Projektleiter der Anna-Lindh-Stiftung, Mitglieder der Palästina Initiative aus der Region Hannover teil und auch syrische Flüchtlinge aus hannoverschen Unterkünften.

Das Angebot der öffentlichen Aufführungen fand überraschend großes Interesse.  Die Plätze waren zu 84% ausgenutzt.

Zuerst führte das Ashtar Theater  ein sehr eindringliches Stück ohne Sprache mit dem Titel 48 minutes for Palestine auf:

Eine Frau lebt allein, sie versorgt Haus und Garten, als eines Tages ein Mann auftaucht. Er trägt einen Koffer und sieht heruntergekommen aus, vom Tode gezeichnet. Sie kennt ihn nicht, doch er lässt sich häuslich nieder. Als wären sie miteinander verheiratet, was keiner von beiden wollte, fangen sie an unnachgiebig um den Platz und die Vorherrschaft im Haus zu streiten. Die Aufführung kommt ganz ohne Worte aus,  „eine erstaunliche, großartige Arbeit“ meint Peter Brook.

Im nachfolgenden Publikumsgespäch wurde darüber diskutiert, ob Juden ein Recht hätten, eine neue Heimat bei den Palästinensern zu bekommen, nachdem sie ihre europäische Heimat verloren hatten. Auch nach der Rolle der Deutschen bei der Lösung des Konflikts wurde gefragt. Es wurde gefragt: ob die Deutschen warten sollten, bis alle Palästinenser vertrieben sind?

Von extremer Körperlichkeit zeichneten sich The new Gaza Monologues aus und die Syrien Monologues waren eher sprach-betont, ruhig-eindringlich:

The new Gaza Monologues, The Syrian Monologues

Die Gaza Monologe entstanden mit Schülern aus Gaza während des Gaza Krieges 2008-2009 in Workshops mit dem Ashtar Theater und wurden im Oktober 2010 uraufgeführt. Sie fanden weltweit Interesse, u. a. bei einer Aufführung in 14 Sprachen vor der UN-Vollversammlung. Nun hat das Ashtar Theater mit jungen Menschen neue Monologe über ihre heutigen Erfahrungen geschrieben, die jetzt erstmals in Deutschland aufgeführt werden. Der zweite Teil des Abends unter dem Titel „the syrian monologues“ entstand durch die Arbeit des Ashtar Theaters in Flüchtlingscamps in Jordanien.

Die persönliche Betroffenheit der SchauspielerInnen berühren und die Fragen nach persönlichen, familiären Erfahrungen beherrschen die Diskussionen.

Workshops

Am Ende der Woche fanden   zwei  gut besuchte Workshops zum „Theater der Unterdrückten“ nach Augusto Boal  und zur Theaterarbeit in syrischen Flüchtlingscamps in Jordanien  statt. Die Workshops wurden als nachhaltig empfunden, weil er von Menschen geleitet wurde, die Theaterarbeit machen, weil sie mit Hilfe des Theaters ihre unmittelbare politische Situation zu verändern suchen. Eine Teilnehmerin sagte: „ Zu wissen, dass Eduard mit Menschen, die Unterdrückung erleben, die ihre Heimat verloren und alles hinter sich gelassen haben, mit dieser Art des Arbeitens wieder Hoffnung schöpfen, weil sie zu Akteuren, Gestaltern werden im Miteinander, ist für mich bedeutsam. Und es regte mich an, wieder intensiver darüber nachzudenken, welche Art von partizipativem Theater ich mit meinen Jugendlichen in Frankfurt in den Blick nehmen sollte.“

Theater in der Palästinensischen Gesellschaft – eine Diskussion über neue Perspektiven

Die vielfältige Theater-Praxis  wurde ergänzt durch die  Diskussion über Theater in der Palästinensischen Gesellschaft. Unter der Moderation von Professor Dr. Florian Vaßen, Theaterpädagoge und Theaterwissenschaftler mit verschiedenartigen Kontakten zu Palästina,  diskutierten  Iman Aoun, künstlerische Leiterin des Ashtar Theaters aus Ramallah, Frau Prof. Dr. Caroline Robertson von Trotta, Leiterin des deutschen Zentrums der europäisch-mediterranen Anna-Lindh-Stiftung, Klaus Hoffmann, Theaterwissenschaftler und Theaterpädagoge und Vorsitzender des „Arbeitskreises Kirche und Theater in der evangelischen Kirche in Deutschland“, sowie Andreas Poppe, Hochschullehrer für Theaterpädagogik an der Hochschule Osnabrück, Institut für Theaterpädagogik in Lingen.

Es fehlte  bedauerlicherweise die für die Diskussion besonders wichtige palästinensische Botschafterin in Deutschland, Frau Dr. Choloud Deibes; sie musste absagen, da in diesen Tagen der palästinensische Präsident Mahmud Abbas der deutschen Regierung in Berlin ein Besuch abstattete und sie verständlicherweise vor Ort sein musste. In den Gesprächen mit der Bundeskanzlerin bat Abbas um mehr Unterstützung für die palästinensische Politik durch die Bundesregierung. Immerhin beinhaltete deren Stellungnahme den deutlichen Hinweis, dass die Siedlungspolitik der israelischen Regierung für einen Friedensprozess kontraproduktiv sei. Frau Deibes hätte sicherlich Grundsätzliches zur palästinensischen Kulturpolitik, zu deren Situation, ihren Möglichkeiten, aber auch zu den finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten sagen können. Daraus hätten sich vermutlich auch kritische Nachfragen ergeben, denn die Probleme entstehen nicht nur aufgrund der israelischen Besatzung, sondern zum Teil sind sie auch Folge der palästinensischen Regierungspolitik.

Die Veranstaltung begann mit einer Powerpoint-Präsentation von Klaus Hoffmann, in der er einen anschaulichen Überblick über die allgemeine Situation des Theaters in Palästina und über die Kooperation zwischen deutschen und palästinensischen Theatern und Kulturinstitutionen gab Frau Aoun, Expertin für das palästinensische Theater, blickte  aus der Position der Theaterpraxis auf die Situation in Palästina. Bevor sie die Theaterlandschaft in den besetzen Gebieten skizzierte und die Vielfalt der Theater, ihre Zielgruppen, Methoden und Organisationsformen vorstellte, gab sie einen kurzen historischen Überblick und erinnerte daran, dass es im heutigen Gebiet von Palästina im Kontext der Seidenstraße sehr früh, schon vor dem antiken Griechenland, wie sie sagte, Theater gegeben habe.

Diese Feststellung war ihr insofern besonders wichtig, als sie sich gegen die häufig geäußerte Behauptung richtet, es gebe in Palästina keine kulturelle Tradition, d.h. Palästina sei vor der israelischen Okkupation ein ‚leerer Landstrich‘ gewesen.

Im Folgenden erwähnte sie das Al Harah Theater in Beit Jala, das Diyar Dance Theater in Bethlehem, das Yes Theater in Hebron, das Freedom Theater in Jenin und weitere Theater, bevor sie ausführlich die Theaterarbeit des Ashtar Theaters, orientiert an Augusto Boals Theater der Unterdrückten, vorstellte. Hierbei verbinden sich theatrale Vorgehensweisen mit theaterpädagogischen Methoden; im Forumtheater etwa werden gesellschaftliche Probleme von den Spielenden vorgestellt, und in konkreten Spielvarianten suchen die Zuschauer zusammen mit ihnen nach Veränderungen bzw. Lösungen.

Das Theater der Unterdrückten ermöglicht demnach Ko-Produktion und Partizipation der Teilnehmenden und es bietet Perspektiven in politischen Konflikten. In dieser Art und Weise arbeitet das Ashtar Theater in ländlichen Gebieten des Jordan-Tals, wo die palästinensische Bevölkerung besonders unter den landwirtschaftlichen Siedlungen der Israelis leidet, aber auch mit Jugendlichen, um ihnen Selbstbewusstsein und Würde zu ermöglichen und ihre Alltagssituation zu verbessern. Das Ashtar Theater bildet zudem Multiplikatorischen aus, damit das Theater der Unterdrückten eine breite Verbreitung findet. Dieser offene und pädagogisch fundierte Kunstprozess bildet einen wichtigen Teil des politischen Widerstands gegen die israelische Besatzung.

In der Diskussion ging es vor allem um das Verhältnis von Kulturarbeit und sozialer Arbeit bzw. politischer Aktion, um die Beziehung zwischen künstlerischer und theaterpädagogischer Arbeit und um die Selbstentwicklung, Identitätsfindung und Widerständigkeit in der Theater-Praxis – vor allem bei jungen Menschen. Wegen der vielen Geflohenen aus Syrien in Deutschland galt darüber hinaus ein besonderes Interesse der Theater-Arbeit in syrischen Flüchtlingscamps.

Aus einer anderen Perspektive betrachtete Frau Robertson von Trotta von der Anna-Lindh-Stiftung die kulturelle Situation im Mittelmeerraum, speziell in Palästina. Bei ihr stehen der Dialog der Kulturen und die interkulturellen Begegnungen im Mittelpunkt, etwa in Form finanzieller Unterstützung einer arabischen Filmwoche, des Projekts „Mittelmeer vor Ort“ oder eben der Woche des palästinensischen Theaters in Hannover.

Es besteht nicht nur eine intensive Zusammenarbeit von deutschen und palästinensischen Theatern, auch im Hochschul-Bereich, in Lehre und Forschung, gibt es eine sinnvolle und tragfähige Kooperation. Zwischen der Hochschule in Lingen und dem Dar Al Kalima University College of Arts and Culture in Bethlehem findet z.B. ein Austausch von Studierenden und Lehrenden statt. Zudem wird die Hochschule in Bethlehem in Fragen des theaterpädagogischen Bachelor- Curriculums von deutscher Seite beraten und unterstützt. Poppe zeigte die engen und fruchtbaren Beziehungen auf, wies aber auch auf Probleme im organisatorischen und institutionellen Bereich hin.

Besonders durch Fragen aus dem Publikum wurde einerseits der große Stellenwert von Kunst und Kultur in der palästinensischen Gesellschaft deutlich und andererseits wurden die schwierigen Arbeitsbedingungen der Theater unter der israelischen Besatzung sichtbar. Gerade für Kinder und Jugendliche – mehr als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung ist unter 19 Jahre alt – ist Theater kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für die Identitätsfindung und Selbstbestimmung; zu den Menschenrechten gehört auch das Recht auf Kultur. Nicht Isolation, sondern Dialog ermöglicht die gesellschaftliche Weiterentwicklung, erst der Kontakt mit dem Fremden ermöglicht Selbstreflexion und Veränderungen des Eigenen. Und so spielen Theater und andere Kulturbereiche nicht nur innerhalb Palästinas eine wichtige Rolle, sie wirken auch nach außen, als ‚Brücke zur Welt‘, als ‚Botschafter‘ der Kultur eines unterdrückten und besetzten Landes. In diesem Sinne lieferte die Podiumsdiskussion wichtige Informationen, ermöglichte veränderten Sichtweisen und führte zu neuen Perspektiven.

 

Klaus Hoffmann          Florian Vaßen